Fastenzeit-Impuls #34 - Psalm 22

Mein Gott,

mein Gott,

warum hast du mich verlassen!

Warum bist du fern

meinem Schreien und Klagen, meinem Aufschreien,

meiner Sprachlosigkeit!

Mein Gott!

Ich schreie! wenn es hell ist, und du hörst mich nicht,

wenn es dunkel ist, und du antwortest mir nicht.

 

Und doch bist du der Heilige, der Lebendige.

der über den Liedern Israels wohnt.

Auf dich setzten unsere Väter ihre Hoffnung-.

Sie hofften auf dich und kamen davon.

Zu dir hin schrien sie und wurden befreit-.

Dir trauten sie und wurden nicht beschämt. […]

Sei nicht so fern!

Ich liege im Dreck.

Keiner hilft mir.

Sie haben mich umzingelt.

Der Mob hat mich eingekreist.

Sie haben ihre Mäuler aufgerissen.

Sie sind schlimmer als Bestien.

Und ich – bin wie Wasser,

hingeschüttet.

Meine Knochen sind wie aufgelöst –

Mein Herz?

Ist in mir zerflossen. Wie Wachs.

Meine Kehle? Ausgetrocknet, eine Scherbe.

Die Zunge klebt mir am Gaumen.

Du hast mich in den Staub des Todes gelegt!

Hundevolk umlagert mich, eine ganze Meute.

Sie haben mir Hände und Füße durchbohrt.

Ich kann all meine Knochen zählen.

Ihr Blick herrscht über mich.

Sie teilen meine Kleider unter sich auf,

werfen das Los über meine Sachen.

 

Und du, Herr!

Hilf doch!

Schreite ein!

Du,

meine Stärke,

komm jetzt!

 

[…]

 

Arnold Stadler, „Die Menschen lügen. Alle“  Inselverlag Frankfurt am Main und Leipzig 2005